Sonntag, 10. Oktober 2010

Leben für Castings

Tausende junger Frauen wollen "Germany's Next Topmodel" werden...
Hobby-Sänger erniedrigen sich für fünf Minuten Ruhm. Zehn Jahre Casting-Shows haben die deutsche Gesellschaft verändert, so Medienforscher Bernhard Pörksen.

Am Montag drängeln sich 700 Mädchen in einem Darmstädter Hotel. Am Mittwoch füllen in Köln Hunderte bei Regen auf einem Bürgersteig Fragebögen aus. Gestern strömen mindestens 400 vor einem Hotel am Düsseldorfer Hofgarten zusammen. Insgesamt 21 solcher Termine sind für das Casting zu Heidi Klums neuer Topmodel-Staffel angesetzt. Seit RTL 2 vor zehn Jahren mit "Popstars" die erste deutsche Casting-Show auf den Bildschirm brachte, drängt es Tausende, nicht mehr bloß Publikum, sondern selbst prominent zu sein – um beinahe jeden Preis. 

Die inzwischen mehr als 20 deutschen Casting-Shows, in denen angeblich mal das nächste Topmodel, der nächste Superstar, der nächste Uri Geller oder auch unser Star für Oslo gesucht wurden und werden, sind für die Sender (meist) ein gutes Geschäft: Sie sind billig in der Produktion, zudem sehen fast immer zwei Millionen plus X zu. Mehr als sieben Millionen sind es, wenn sich bei "Deutschland sucht den Superstar" ein Kandidat in die Hose macht. Genauso viele Zuschauer verfolgen schadenfroh die Freakshow "Das Supertalent". Selbst "X-Faktor" bei Vox garantiert meist zweistellige Marktanteile. Dass sowohl die Kandidaten wie auch die Zuschauer eigentlich wissen, dass der einzige Zweck dieser Shows in der Show und nicht in der Entdeckung von Talenten besteht, tut dem Erfolg keinen Abbruch.  
Für den Hamburger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat sich Deutschland längst in eine "Casting-Gesellschaft" verwandelt, in der die Sucht nach Aufmerksamkeit allgegenwärtig geworden ist. Wer nicht prominent ist, der ist es heute bloß "noch nicht". Um diesen Zustand zu ändern, nehmen die Kandidaten fast alles in Kauf. Die Kurzformel der Casting-Gesellschaft lautet schlicht "Ich will stattfinden", so Pörksen.  
Die Kandidaten der Shows begriffen sich selbst als Event: "Ich trete auf, also bin ich!" Für den Traum vom Promi-Leben im Medien-Glamour ließen sich die Star-Anwärter willig von Juroren, Redakteuren und Trainern "abkanzeln, kommandieren und instrumentalisieren. Auch der mögliche Preis, vor laufender Kamera von einem Millionenpublikum verhöhnt zu werden, ist ihnen nicht zu hoch".  
So berichtet die gelernte Bürogehilfin Natascha Birkhahn, die mit ihrer übergewichtigen Problemfamilie etliche Castingformate inklusive "Super-Nanny" hinter sich hat, dass sie auch verzerrte Darstellungen ihrer Familie nicht wirklich stören: "Die einzelnen Sendungen haben eben immer auch einen Schwerpunkt, auf den sie sich konzentrieren müssen." Und wenn man sich das hinterher ansehe, sei es ein bisschen wie eigene Urlaubs-Videos.  
Für Pörksens Untersuchung erzählte ihm die Inhaberin einer Casting-Agentur ganz unverblümt: "Es geht nicht um Wahrheit, sondern wir haben es hier mit einer Industrie zu tun, in der einfach viel Geld verdient wird." Das System der Casting-Shows sei Kapitalismus pur: der Mensch als Ware und gleichzeitig als Konsument. Das sei nicht zynisch, sondern realistisch: "Es ist doch ganz simpel: Die menschliche Dummheit ist einfach grenzenlos, das können Sie Tag für Tag sehen, hören und lesen." Doch stünden die Kandidaten eben nicht als Schauspieler auf der Bühne, sondern immer auch als sie selbst, so Pörksen: "Pöbeleien, Telefonterror und Hass-Kommentare im Internet erleben sie als reale Personen in ihrem Alltag, nicht als Figuren eines Drehbuchs. Casting-Shows funktionieren, weil zumindest die Opfer echt sind."  
Weil Deutschland inzwischen "durchgecastet" sei, falle es den Machern zunehmend schwer, noch "echte" Menschen für Reality-Formate zu finden. Daher griffen die Sender zunehmend zur sogenannten "Scripted Reality ", bei der Laien sich nach Drehbuch verhielten. Gerade ihre Unbeholfenheit lasse sie "echt" wirken. ARD und ZDF lehnen solche Formate (noch) ab, doch zugleich fürchten sie sich vor ihnen: Der Geschmack der Zuschauer könnte sich durch die Wirklichkeits-Fälschung verändern, heißt es – und die Öffentlich-Rechtlichen dann viele Zuschauer nicht mehr erreichen.  
Buch Bernhard Pörksen / Wolfgang Krischke (Hrsg.) Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Herbert von Halem Verlag , 352 Seiten, 18 Euro

www.casting-gesellschaft.de


Quelle: Rheinische Post

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